Bangen um Mehrheiten ohne AfD: Thüringen wählt neuen Landtag
In Thüringen wählen die Menschen einen neuen Landtag - und entscheiden, ob erstmals in einem Bundesland die AfD stärkste Kraft wird. Die Wahllokale öffneten um 8 Uhr. In Umfragen lag die Partei mit ihrem Rechtsaußen-Spitzenkandidaten Björn Höcke zuletzt vorn, hat aber keine Koalitionsaussichten.
Dennoch könnte es in der Erfurter Staatskanzlei zum Machtwechsel kommen, in ungewöhnlicher Konstellation: Nach Umfragen hätte nur ein noch nie dagewesenes Bündnis aus CDU, Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und SPD eine politisch machbare Mehrheit.
Wie polarisiert die Gesellschaft ist, zeigte sich in Thüringen wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale: In Erfurt standen 1.300 AfD-Anhängern bei einer Kundgebung rund 3.000 Gegendemonstranten gegenüber, die gegen Rechtsextremismus und für Weltoffenheit eintraten.
Newcomer könnte Königsmacher werden
Neben der AfD könnte der Newcomer, das Bündnis Sahra Wagenknecht, zum großen Profiteur der Wahl in Thüringen werden. Aus dem Stand sehen Umfragen das BSW auf Platz drei, nicht ausgeschlossen, dass es am Ende noch zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und BSW um Platz zwei kommt, auch wenn sich der Abstand zwischen beiden Parteien in Umfragen zuletzt etwas vergrößert hat. Das BSW mit seiner bekannten Spitzenkandidatin Katja Wolf könnte so entweder zum Königsmacher werden oder selbst das Amt des Ministerpräsidenten begehren, das Thüringens CDU-Chef Mario Voigt ebenfalls anstrebt.
Kaum Chancen für Ramelow
Nach zehn Jahren Rot-Rot-Grün mit Deutschlands erstem und bisher einzigen Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow ist das Bündnis in Umfragen weit entfernt von einer möglichen Mehrheit. Die drei Partner führten das Land schon die vergangenen viereinhalb Jahre als Minderheitsregierung - mit teils für sie schmerzvollen Kompromissen und zähen Verhandlungen. Ramelows Linke stürzte nach der Gründung des BSW in den Umfragen ab, obwohl der 68-Jährige weiter als beliebtester Politiker des Landes gilt.
Einfach dürfte es auch künftig nicht werden in Thüringen. Seit Jahren gilt die politische Lage in dem Land als kompliziert und vertrackt. 2020 stürzte der Freistaat in eine tiefe Regierungskrise, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und drei Tage später nach öffentlichem Druck zurücktrat. Kemmerich geht erneut als Spitzenkandidat ins Rennen, muss aber damit rechnen, dass die FDP den Einzug ins Parlament nicht schafft. Ebenso müssen die Grünen um einen Wiedereinzug bangen. Die SPD lag in Umfragen zuletzt öfter mit 6 bis 7 Prozent gefährlich nahe an der Fünf-Prozent-Hürde.
Gefahr von Blockaden
Im Extremfall könnten also entweder sieben oder nur vier Parteien im künftigen Landtag vertreten sein. Damit verbunden sind Sorgen einiger Politiker, dass die AfD einfacher zu einer sogenannten Sperrminorität gelangt, wenn weniger Parteien ins Parlament einziehen. Mit einer Sperrminorität, also mehr als einem Drittel der Sitze im Landtag, könnte die AfD wichtige Entscheidungen und Wahlen blockieren und darüber womöglich eine gewisse Gestaltungsmacht erzwingen. Verfassungsrichter werden etwa mit Zweidrittel-Mehrheit gewählt, der Landtag könnte sich nicht mehr ohne AfD-Beteiligung selbst auflösen.
Auch ohne solche Blockaden wird das Land wohl zumindest vor komplizierten Monaten stehen. AfD-Rechtsaußen Höcke hat bereits angekündigt, dass er zu Koalitionsgesprächen einladen will. Die Thüringer AfD wird als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und beobachtet. Im politischen Erfurt gibt es Befürchtungen, dass die AfD früh eine Ministerpräsidentenwahl anzetteln könnte, um mögliche Koalitionsgespräche der anderen Parteien zu stören oder zu gefährden.
Zumal: Wie eine sich anbahnende Liaison zwischen Christdemokraten und der Partei der früheren Kommunistin Wagenknecht in der CDU nach der Wahl aufgenommen und diskutiert wird, ist völlig offen. Mit Blick auf die Bedingungen von Wagenknecht bei der Haltung einer möglichen Landesregierung zu US-Raketen in Deutschland und dem Krieg in der Ukraine hatten auch SPD-Politiker Bedenken angemeldet. Die aus Thüringen stammende Wagenknecht signalisierte wiederum, dass sie mit am Verhandlungstisch sitzen will.
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